Betreffend des Polygrafen hat der Bundesgerichtshof entschieden, dieser soll (in Strafsachen) ein völlig ungeeignetes Beweismittel sein. Doch sind familienpsychologische Gutachten ungeeignete Beweismittel? Wir blicken auf die Datenlage.
- Polygrafen-Trefferquote als Referenz der Nichteignung
- Trefferquote Aussagepsychologisches Gutachten
- Beweiswürdigung durch Fachpersonen
- Fehlerhaftigkeit von Familienpsychologischen Gutachten
- Konklusion
- Zuverlässigkeit unterschiedlicher Beweismittel
- Ergebnis: Familienpsychologisches Gutachten alleine ist ein ungeeignetes Beweismittel
Polygrafen-Trefferquote als Referenz der Nichteignung
Dem widersetzt sich das Amtsgericht Schwäbisch-Hall mit überzeugenden Argumenten:
„Wegen der hohen Trefferquote hatte Schwabe (NJW 1982, 367) bereits 1982 die Entscheidung eines Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 18.08.1981 –2 BvR 166/81 -, NJW 1982, 375) kritisiert und von einer „brüchigen Logik“ gesprochen. Denn wenn ein Beweismittel mit einer Treffergenauigkeit von 90 % nicht ausreiche, so müsste man folglich allen Beweismitteln, deren Treffergenauigkeit sich nicht über die 90 %-Marke erhebt, ihren Beweiswert absprechen und als völlig ungeeignetes Beweismittel einstufen. Letztendlich ist in der Gerichtspraxis bekannt, dass der Zeugenbeweis hinsichtlich der Trefferquote „Lüge“ oder „Irrtum“ besonders unzuverlässig ist. Dennoch gehört die Zeugenvernehmung zu dem Beweismittel, welches in der gerichtlichen Praxis am häufigsten erhoben wird. Würden entsprechende Anforderungen hinsichtlich der Treffergenauigkeit auch an andere Beweismittel gestellt werden, bliebe letztendlich wohl nur das DNA-Abstammungsgutachten mit 99,9 %-Trefferquote als geeignetes Beweismittel für die Gerichtspraxis übrig.“
zitiert nach AG Schwäbisch-Hall 2 F 150/20
Je nach Untersuchung soll der Polygraf zwischen 70 und 90% Zuverlässigkeit erreichen:
„Gegen die damals mitgeteilten Trefferquoten – immerhin von 70 bis 90 Prozent – hatte der Bundesgerichtshof aber derart tiefgreifende Bedenken, dass er der Vergleichsfragenmethode eine selbst minimale indizielle Bedeutung absprach (vgl. BGH St 44, 308, 322f.)“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 89
Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche Trefferquote andere Beweismittel haben.
Trefferquote Aussagepsychologisches Gutachten
Auch bei der Aussagepsychologie gab und gibt es erhebliche Validitätsprobleme:
„Diese Begründung überrascht, wenn man sich an die Worte desselben Senats zur Zuverlässigkeit und Geeignetheit der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung erinnert. Denn dort sprachen und sprechen ihm zufolge weder die bescheidene Befundlage zur Bestätigung der Undeutsch-Hypothese – zur Erinnerung: „Zwar handelt es sich um Indikatoren mit jeweils für sich genommen nur geringer Validität, d.h. mit durchschnittlich nur wenig über dem Zufallsniveau liegender Bedeutung“ – noch die teilweise nicht unerheblichen Fehlerspannen und der nur limitierte Beweiswert gegen die Zulässigkeit und tagtägliche Anwendung (vgl. BGHSt. 45, 164, 171)“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 90
Deshalb hatte sich Steller auch ausgesprochen, die psycho-physiologische Aussagebegutachtung (=Polygrafen) als Ergänzung zur Aussagepsychologie, nicht als Konkurrenz zu sehen:
„Steller plädierte in seiner Habilitationsschrift bereits 1987 dafür, den Polygrafen nicht als konkurrierendes, sondern als die Aussagenanalyse ergänzendes Mittel in Betracht zu ziehen.“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 172
Makepeace zitiert hier diverse Studien, die zu einem Ergebnis von 88% subjektiv wahr und 70,5% bewusst unwahr kommen (Akehurst, Matnon und Quandte nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 66) bzw. 85% subjektiv wahr und 50% bewusst wahrheitswidrig (Welle et al aaO) – wobei in letzterer Studie sogar Ergebnisse unterhalb des Zufallswertes erreicht wurden.
Andere Studien gehen von Werten von 44 % bis 91 % subjektiv wahr und 35% bis 100% bewusst wahrheitswidrig aus (Makepeace aaO S. 67).
Makepeace relativiert diese Ergebnisse und stellt daher vor allem auf Vrij ab, der in einer Meta-Analyse zu 81% subjektiv wahr und 57,75 % bewusst wahrheitswidrig kommt (aaO S. 68).
Beweiswürdigung durch Fachpersonen
Ein anderes Element der Wahrheitsfindung ist die Beweiswürdigung und damit die Aussagebeurteilung durch Richter, Polizisten und Staatsanwälte:
„So ergab eine Meta-Studie aus dem Jahr 2008, dass professionelle Aussagebeurteiler wie Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter Trefferquoten zwischen lediglich 45 und 60 Prozent im Erkennen von Lügen anhand eigener Erfahrung erzielen können. (…) Das entspricht etwa der Zahl, die Bond und DePaulo für nicht-professionelle Aussagebeurteiler ermitteln konnten. Der für Vrij nennenswerte Unterschied zwischen Fachleuten und Laien: Erstere neigen dazu, sich maßlos zu überschätzen.“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 177
Die Wahrscheinlichkeit, richtig zu raten, das muss an dieser Stelle erwähnt sein, liegt bei 50%.
Fehlerhaftigkeit von Familienpsychologischen Gutachten
Familienpsychologische Gutachten sind je nach Studie mal mehr, mal weniger verwertbar. Natürlich kann man die Fehlerhaftigkeit statistisch nicht gleichsetzen mit der falsch-positiven oder falsch-negativen Bewertung von Polygrafen- oder Aussagepsychologischen Gutachten. Doch für einen groben Vergleich mag es ausreichen:
Nach Leitner sind Familienrechtsgutachten nur zu 21% durchgängig auf aktuelle Erkenntnisse basierend (vgl. Leitner, Erkenntnisse aktueller Studie IB Hochschule 2014), nur zu 5% systematisch in der Verhaltensbeobachtung und nur zu 20% wissenschaftlich spezifiziert in der Gesprächsführung, weshalb er zu dem Ergebnis kommt, dass 25% aller Familiengutachten nicht mangelhaft sind und 75% mangelhaft (vgl. Pressemitteilung Frontal 21).
Als Entscheidungsgrundlage für die Gerichte seien diese mangelhaften Gutachten überhaupt nicht geeignet
zitiert nach Pressemitteilung Frontal 21
Die Studie der Fernuni Hagen von Stürmer und Salewski kommt zu dem Ergebnis, dass nur 59% aller Gutachten methodisch unproblematisch waren und diagnostisch ungenügende Tests eingesetzt wurden.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass je nachdem, welche Kri-
Stürmer und Salewski, Deutsche Richterzeitung
terien zugrunde gelegt werden, ein Drittel bis mehr als die Hälfte
der Gutachten fehlerhaft ist.
Selbst Dettenborn, der einen Hype kritisiert und den Berufsstand als solches am Pranger sieht:
„Es ist ein Hype im Gange, der unserer Arbeit nicht gerecht wird“, sagt Rechtspsychologe Harry Dettenborn, bis 2004 Inhaber eines
Amann und Neukirch in Spiegel 2015
Lehrstuhls an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Von Einzelfällen wird auf den ganzen Berufsstand geschlossen.“ Doch sogar er schätzt, dass jedes zehnte Gutachten schlecht sein dürfte.
Doch auch er kommt zu dem Ergebnis, dass „nur“ 90% der Gutachten mangelfrei sein dürften.
Konklusion
Nimmt man die Maßstäbe des BGH an den Polygrafen heran, dann reichen 90% Qualität nicht aus:
Anderes ergibt sich auch nicht aus den Berichten über hohe „Trefferquoten“ (bis zu 98,5 %) bei der Durchführung von Studien. In der Wissenschaft besteht weitgehend Einigkeit, daß sich die in experimentellen Untersuchungen (Labor- und Analogstudien) erzielten Ergebnisse von vornherein nicht auf die gerichtliche Praxis übertragen lassen, weil die Testbedingungen der Wirklichkeit eben nicht entsprechen.
zitiert nach BGH PM 96/98
Zutreffend hatte Schwab (siehe oben) kritisiert, dass wenn man nur 99,9% richtige Gutachten und Beweismittel zulassen möchte, dass dann nur DNA-Abstammungsgutachten in Betracht kommen.
Zuverlässigkeit unterschiedlicher Beweismittel
Beweismittel | Zuverlässigkeit |
Aussageanalytisches Gutachten | 81% |
Aussagewürdigung Gericht | 45-60% |
Polygraf | 70-90% |
Münze werfen | 50% |
Familienpsychologische Gutachten | 75-90% |
Damit sind also letztlich alle Methoden ungeeignete Beweismittel im Sinne der Logik des BGH.
„Nimmt man das Argument der Bundesrichter für voll, die polygrafengestützte Glaubwürdigkeitsbegutachtung sei als Beweismittel völlig ungeeignet, da es sich bei ihr nicht um eine in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestufte Methode handle, muss konsequenterweise die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ebenso ein ungeeignetes Beweismittel sein. Auch diese ist in den maßgebenden Fachkreisen alles andere als unumstritten (…)“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 90
Diesen Zahlen folgend kommt man nur zur Richtigkeit der Argumentation des AG Schwäbisch-Hall:
„Dabei verpflichtet der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG die Familiengerichte in Kindschaftsverfahren im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. In besonderer Weise ist das Familiengericht gehalten, die vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen und auf diese Weise nach Möglichkeit zu vermeiden, dass sich die Grundsätze der Feststellungslast zu Lasten des Kindes auswirken (BGH, Beschluss vom 17.02.2010 – XII ZB 68/09 -, NJW 2010, 1351 (1353)). Dies ist letztendlich der entscheidende Aspekt, warum der Polygraph im familiengerichtlichen Verfahren zuzulassen ist, da er – ungeachtet des Meinungsstreits – die Wahrscheinlichkeit zum Wohl des Kindes erhöht, dass das Familiengericht weder in Bezug auf den Kindeswohlaspekt 1 noch in Bezug den Kindeswohlaspekt 2 eine Fehlentscheidung trifft. Denn das Familiengericht trifft letztendlich in derartigen Fällen Entscheidungen, die das Leben eines minderjährigen Kindes betreffen und entscheidende „Weichen“ für die Zukunft dieses jungen Menschen stellen.“
zitiert nach AG Schwäbisch-Hall, Beschluss vom 25.10.2021 – 2 F 150/20
Entweder sind alle Beweismöglichkeiten auszuschöpfen oder keines, weil keines für sich alleine genommen die notwendige klare Datenlage für sich beanspruchen kann.
„Tritt zum Beispiel beim Zeugen neben das negative Ergebnis einer aussagepsychologischen Begutachtung ein positives Ergebnis einer polygrafengestützten Begutachtung – zeigen also beide Methoden unabhängig voneinander auf die Tatsache einer bewusst wahrheitswidrigen Aussage -, muss sich (denk-)logischerweise die Wahrscheinlichkeit insgesamt erhöhen, dass die Aussage tatsächlich erfunden und der Beschuldigte unschuldig ist. Von der Erhöhung einer solchen Gesamtwahrscheinlichkeit geht selbst die Rechtsprechung aus, obgleich sie nicht ausdrücklich von einem Beweisring oder der Bayes-Regel spricht (vgl. BGH ST. 38, 320, 324)“
zitiert nach Makepeace, Der Polygraf als Entlastungsbeweis 2023, S. 172
Ergebnis: Familienpsychologisches Gutachten alleine ist ein ungeeignetes Beweismittel
Dies gilt also auch für das familienpsychologische Gutachten, das gem. BGH XII ZB 68/09 sowieso nicht auf ungeprüften Anknüpfungstatsachen basieren darf, auch für das Aussagepsychologische Gutachten oder den Polygrafen. Alle, insbesondere aber die Ermitttlungsarbeit des Gerichts, sollten als gegenseitige Ergänzung gesehen werden.
Sonst muss man von familienpsychologischen Gutachten leider auch als ungeeignete Beweismittel im Sinne der Rechtsprechung des BGH betrachten, weil die Befundlage zu dünn ist. Familienpsychologische Gutachten sind für sich alleine genommen kein geeignetes Beweismittel.