Ein klassischer Fehler ist es, dass keine Hypothesen in familienpsychologischen Gutachten gebildet werden, sondern nur „psychologische Fragen“ aus dem (rechtlichen) Beweisbeschluss gebildet werden. Dabei wird oftmals der Unterschied zwischen Hypothesen, Zusatzhypothesen und psychologischen Fragen nicht gekannt und durch die Juristen nicht geprüft. Wie es geht, erkläre ich in diesem Beitrag.
Psychologische Fragen in familienpsychologischen Gutachten
Die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht formulieren in den formellen Anforderungen an ein Gutachten folgendes:
Ausgehend von der rechtlichen Fragestellung, die sich aus dem Beweisbeschluss ergibt, sind die psychologischen Fragestellungen zu entwickeln (S. 7, 8, 11 d. Mindestanforderungen, vgl. Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Auflage, Rn. 1346).
Es wird also das aus dem Beweisbeschluss geforderte in rechtliche Fragen umgewandelt. Das sind aber nicht die geforderten Hypothesen.
Hypothesen: Was sind Hypothesen
Was sind nunmehr Hypothesen?
„Eine Hypothese ist
zitiert nach Oxford Languages and Google
- BILDUNGSSPRACHLICH unbewiesene Annahme, Unterstellung („eine abenteuerliche Hypothese“)
2.WISSENSCHAFT von Widersprüchen freie, aber zunächst unbewiesene Aussage, Annahme (von Gesetzlichkeiten oder Tatsachen) als Hilfsmittel für wissenschaftliche Erkenntnisse“
Es ist also eine unbewiesene Annahme.
Weiter geht das DATAtab Team:
„Eine Hypothese ist eine Annahme, die weder bestätigt noch widerlegt ist. Im Forschungsprozess wird eine Hypothese gleich zu Beginn aufgestellt und das Ziel ist es, diese Hypothese entweder abzulehnen oder beizubehalten. Um eine Hypothese abzulehnen oder beizubehalten, werden Daten, z.B. aus einem Experiment oder einer Umfrage benötigt, die dann mit Hilfe eines Hypothesentests ausgewertet werden.“
zitiert nach DATAtab Team (2024). DATAtab: Online Statistics Calculator. DATAtab e.U. Graz, Austria.
Die noch nicht erfolgte Bestätigung oder Widerlegung ist daher erhebliche Grundlage der Hypothesen.
„Hypothesen können durch die Ergebnisse einer Befragung entweder bestätigt (-> verifiziert) oder widerlegt (-> falsifiziert) werden.“
zitiert nach Bundeszentrale für politische Bildung,
Beispielhypothesen
Salzgeber nennt insoweit einige Beispielhypothesen, von denen ich eine hier zitieren darf, weil diese schön anschaulich ist.
Die Arbeitshypothese ist also eine Behauptung, die wahr oder falsch sein soll, die aber im Familienrecht den Streit quasi auf den/die Punkte bringt („globale Frage“, Salzgeber aaO).
Davon zu unterscheiden sind Zusatzhypothesen. Denn diese dienen dazu, die abgeleiteten psychologischen Fragen durch die Zusatzhypothesen hin zur globalen Frage zu konkretisieren (Salzgeber aaO).
Westhoff und Kluck zu Hypothesen
Westhoff und Kluck in Psychologische Gutachten, 6. Auflage 2014, deren Werk immer noch zur Standardliteratur gehört trotz des hohen Alters, definieren das ein wenig schwieriger und sperriger:
„Grundlage jeden wissenschaftlichen Arbeitens ist ein hypothesengeleitetes Vorgehen, dies gilt demnach auch für eine wissenschaftliche Begutachtung.“
Westhoff und Kluck, Psychologische Gutachten, 6. Auflage 2014, S. 127
Und besser:
„Bei persönlich wichtigen Entscheidungen zwischen wenigen Alternativen stellen sich Menschen i.d.R. zukünftige Ereignisse vor, die ihnen als Folgen von zur Wahl stehenden Alternativen möglich erscheinen. Solche möglichen Ereignisse im psychologisch-diagnostischen Prozess können sehr global sein wie z.B. die Einbeziehung eines bestimmten Variablenbereichs in die Hypothesenbildung; sie können aber auch sehr differenziert sein wie z.B. die Formulierung einer einzelnen Frage für das Entscheidungsorientierte Gespräch.“
Westhoff und Kluck, Psychologische Gutachten, 6. Auflage 2014, S. 236
Auch das hier gilt:
„Zu allen bei einer Fragestellung relevanten Variablen werden Psychologische Fragen (Hypothesen) formuliert.
zitiert nach Westhoff und Kluck, Psychologische Gutachten, 6. Auflage 2014, S. 127
Zu jeder Positiv-Annahme versucht der Gutachter, zumindest gedanklich und soweit dies möglich ist auch die entsprechende Gegenhypothese zu formulieren.
(…)
Alle Aussagen, die sich auf individuelles Verhalten beziehen, werden mit systematisch gewonnenen Beobachtungen belegt.
Es wurde auch nach solchen Informationen gesucht, die den Positiv-Annahmen widersprechen.“
Ergebnis
Ohne eine ausdrückliche Hypothesenbildung leidet die Nachprüfbarkeit eines Gutachtens. Zwar lässt hier der Stand der Wissenschaft einige Freiräume, Hypothesen sind aber zumindest immer präsent und unverzichtbar, wenn auch nicht immer genannt. Da viele Gutachter den Unterschied zwischen Hypothese und psychologische Fragestellung verwischen oder nicht kennen, liegt hierin eine häufige Fehlerquelle bei psychologischen Gutachten.